Wenn man den Geschäftsraum der Bank betrat, sah man schon von weitem einen großen Christbaum. Schön geschmückt mit Kugeln und allerlei Firlefanz, Glitzer und elektrischen Kerzen, welche die Aufmerksamkeit der Kunden erregen sollten. Es war wieder einmal so weit, Weihnachten stand vor der Tür. Unter dem Baum lagen bereits einige Pakete, hübsch verpackt, in weihnachtliches Geschenkpapier gewickelt, mit bunten Schleifen verziert. Weiße Weihnachtsengelchen aus Papier klebten auf den Paketen. Einige dieser Engel aber hingen noch in den Zweigen und warteten darauf, einem Paket zugeordnet zu werden. Bei näherer Betrachtung konnte man sehen, dass es eigentlich Zettel mit gewissen Informationen waren, die aus weißem Papier in der Form von Engeln ausgeschnitten worden waren. Ein langer weißer Mantel, ein Paar Flügel, zwei kleine vor der Brust gefaltete Ärmchen waren mit einem schwarzen Stift eingezeichnet worden; ein Kopf, durch den ein Faden zum Aufhängen gezogen war. Der Kopf war Träger einer Nummer. Auf dem Bauch des Engels befanden sich Angaben zu dem oder der mit der jeweiligen Nummer Bezeichneten. Ob es sich um einen Buben oder ein Mädchen handelte und das Alter. Darunter - nun befand man sich auch schon am Saum des Mantels - war eine kurze Liste mit Weihnachtswünschen, von denen einer offensichtlich bereits erfüllt worden war und sich wahrscheinlich in diesem Paket befand, an welchem der Weihnachtsengel mittels eines Klebebandes befestigt worden war.
Vor dem festlich geschmückten Baum steht ein älteres Ehepaar. Nummer 23. Ein Bub, 8 Jahre alt. Legos, Nintendo DS Spiele (Football, Basketball, irgendetwas mit Sport). Zwei Paar Augen treffen einander, ein flüchtiges Lächeln, ein Nicken. Nummer 23 wird vorsichtig von dem Zweig des Weihnachtsbaumes abgelöst und verschwindet in der Handtasche der Dame. Er soll beides bekommen, Legos und ein Nintendo Spiel. Vielleicht würde das sein schönstes Weihnachten werden.
Craig war 8 Jahre alt. Er lebte mit seiner Mutter in einem Wohnwagen auf dem Trailerpark. Wann er seinen Vater zuletzt gesehen hatte, wusste er nicht mehr so genau. Jedenfalls hatte er ihm diesen Nintendo DS geschenkt, als er sich bei ihm verabschiedet hatte. Ein Spiel hatte ihm seine Mutter dann gekauft, ein übertragenes. Es war cool gewesen am Anfang. Doch was macht man mit einem Nintendo, wenn man nur ein Spiel dafür hat? Wenn Craig in der Schule war, wollte die Zeit gar nicht vergehen und er wünschte sich, endlich den Schulbus besteigen zu können, der ihn jeden Nachmittag an der Ecke absetzte, von wo aus er zu Fuß zum Wohnwagen zurückfinden konnte. Wenn er aber dann zu Hause war, wollte die Zeit wiederum nicht vergehen. Die Mutter schlief meistens schon. Aufgaben hätte er machen sollen, doch im Wohnwagen war es dafür zu finster. Besonders um diese Jahreszeit, kurz vor Weihnachten. Mit seinem Nintendo konnte er auch in der Dunkelheit spielen. Craig fragte sich, wie oft er wohl dieses eine Spiel schon gespielt hatte. Vielleicht hundert Mal? Wie oft war das eigentlich? Wie sollte man sich die Zahl hundert vorstellen? Wo man doch nur zehn Finger hatte! Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass es am Abend und in den Nächten im Wohnwagen entsetzlich kalt werden konnte, dass er oft hungrig und durstig war. Und dass er in seinem Schulgewand auf der Matratze sitzend, die sein Bett war, während er Nintendo spielte, einschlief. Und dass er schlief, bis der Lärm vor dem Wohnwagen ihn weckte. Dann musste man sich schnell das Gesicht waschen, die Schultasche nehmen und zum Schulbus laufen.
Die Angestellten beim Walmart tragen rote Weihnachtsmützen mit weißem Besatz und weißen Quasten. Beim Walmart kann man alles kaufen: Lebensmittel, Spielzeug, Haushaltsgeräte, alles unter einem Dach. Das Ehepaar betritt die Spielzeugabteilung. Star Wars würde ihn sicher interessieren. Für 7 bis 12 Jahre. Das sollte passen. Da kann er dieses Flugobjekt, welches auf der Packung abgebildet ist, zusammenbauen und es gibt auch einige Figuren, wie man sieht, falls man den Abbildungen trauen darf. Bestimmt hat er den Film gesehen und kann Szenen nachspielen. Legos - eine gute Wahl hat er getroffen, der Kleine. Fördert die Kreativität. Bitte um einen Geschenkgutschein zwecks Umtausch, nur für den Fall, dass er diese Packung schon hat. Die elektronischen Spiele sind im Obergeschoss. Ein Football- oder Basketball-Spiel soll es sein, aber bitte das Neueste, was Sie auf dem Gebiet haben, da er die alten sicher schon besitzt. Nein, keine übertragenen Spiele! Es soll ja schließlich ein Weihnachtsgeschenk sein. Dieses hier sieht gut aus! Für einen 8 Jahre alten Buben, den wir leider nicht näher kennen. Ja? Geeignet? Einen Geschenkgutschein, bitte. Daheim werden die Geschenke schön verpackt und bei nächster Gelegenheit bei der Bank abgegeben.
Die anderen Kinder vom Trailerpark wollten mit Craig nicht spielen. Sie sagten, er sei ein Stotterer und sicher mache er in der Nacht auch ins Bett. Stotterer seien Bettnässer, sagten sie. Sie sprachen auch schlecht über seine Mutter. Sie sei eine Giftlerin und Alkoholikerin, sagten die anderen Kinder. Eines Tages würde seine Mutter weißen Schaum erbrechen und dann würde es vorbei sein mit ihr. Oder sie würde an ihrer eigenen Kotze ersticken, sagten sie. Giftler ersticken meistens an ihrer eigenen Kotze, das sei ekelhaft. Und manchmal sagten sie auch nur einfach: Geh weg! Du stinkst.
Craig läuft hinaus aus dem Trailerpark. Den Zaun entlang. Er denkt daran, dass seine Mutter bald sterben werde und er erinnert sich an ein Gedicht der Hopi-Indianer, das die Lehrerin in der Schule einmal vorgelesen hat. Wenn er sich auch sonst nicht viel vom Unterricht merkte, dieses Gedicht war ihm in Erinnerung geblieben, weil er dabei an seine Mutter denken hatte müssen. Es ging ungefähr so:
Steh nicht an meinem Grab und weine nicht!
Ich bin nicht hier, ich schlafe nicht.
Ich bin tausende Winde, die wehen.
Der diamantene Glanz des Schnees.
Ich bin das Sonnenlicht auf reifem Korn.
Der sanfte Herbstregen.
Wenn du in der Stille des Morgens erwachst,
bin ich der flüchtige Morgennebel.
Ich bin ein stiller Vogel, der seine Runden dreht.
Ein sanfter Stern, der zur Nacht dir leuchtet.
Steh nicht an meinem Grab und weine nicht!
Ich bin nicht hier.
Ich bin nicht tot.
Auf der anderen Seite der Straße standen gemauerte Häuser mit Vorgärten. Doch dazwischen lag eine breite dicht befahrene Straße, die man nicht überqueren konnte. Wenn es zu dunkeln begann, erwachten die Vorgärten, einer nach dem anderen, zum Leben. Da gingen dann plötzlich Lichter an, Christbäume begannen zu glitzern, Weihnachtsmänner in roten Mänteln begannen sich zu drehen. Zwischen dem Motorengeräusch der vorbeisausenden Autos konnte man bruchstückhaft eine Melodie erahnen „Joy to the World“. Silberne Glocken und weiße Rentiere strahlten hell in die beginnende Nacht.
Als Craig am 25. Dezember aufwacht, fällt sein Blick gleich auf die beiden Pakete, die auf dem kleinen braunen Klapptisch neben seiner Matratze liegen. Die Sozialarbeiterin hat sie am Vortag gebracht. Santa Claus hätte sie bei ihr für ihn abgegeben, da er im Wohnwagen ja keinen offenen Kamin mit einem Schornstein hätte. Die Mutter ist auch schon wach. Ungeduldig reißt Craig das Weihnachtspapier von den Geschenken. Die Geschenkgutscheine fallen heraus. Das sei gut, meint die Mutter, da könne sie die Geschenke gegen Lebensmittel eintauschen. Sie nimmt die Päckchen und die Gutscheine an sich. Craig beginnt zu heulen. Ob er denn über die Feiertage verhungern möchte, fragt die Mutter. Wenn die Schule geschlossen ist, gibt es auch keinen Gratis-Mittagstisch für Schüler. Das weiß Craig.
Er läuft hinaus ins Freie, hinaus aus dem Trailerpark, den Zaun entlang, immer den Zaun entlang, um den Trailerpark herum, bis er müde ist. Bei der Bushaltestelle steht eine Bank. Erschöpft setzt sich Craig auf die Bank. Untertags ist es warm. Aber nur in der Sonne. Die Bank der Bushaltestelle steht in der Sonne. Er bleibt sitzen und wartet, bis er einen Bus kommen sieht. Der Bus bleibt nicht stehen. Craig schläft ein.
Als am Nachmittag die Sonne verschwindet, ist es plötzlich kalt. Davon wacht Craig auf. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite beginnt nach und nach der ganze Weihnachtszauber in den Vorgärten zu erglänzen. Schlitten mit Rentieren beginnen sich zu bewegen, Weihnachtsmänner sich zu drehen, Glocken fangen an zu läuten und von überall her ertönt es „... Mary’s boy child, Jesus Christ, was born on Christmas Day. And man will live for evermore, because of Christmas Day. …” Craig hat Hunger, entsetzlichen Hunger, der sich in die Magengrube bohrt. Er steht auf und macht sich auf den Heimweg.
Im Wohnwagen ist es dunkel. Den muffigen Geruch im Wageninneren ist Craig bereits gewohnt. Er bemerkt ihn schon gar nicht mehr. Craig tastet nach dem Schalter der Tischlampe, die ein nur mattes Licht verbreitet. Sein Blick fällt auf einige leere Flaschen, die auf dem Boden verstreut liegen. Dann entdeckt er seine Mutter, die zusammengekrümmt in der Ecke lehnt. Er geht zu ihr. Craig stupst sie vorsichtig an. Sie fällt zur Seite und schlägt hart auf dem Boden auf.
Craig geht zu der Matratze, die sein Bett ist, und legt sich ohne sein Gewand auszuziehen darauf. Er zittert. Er zieht sich die Decke über den Kopf. Von draußen hört er den Wind, der durch die Baumkronen pfeift, und dann beginnt Regen auf das Dach des Wohnwagens hernieder zu prasseln.